Die Legende von Tjark Evers – Friesenzeit Podcast Folge 5
Hallo liebe Hörer und Hörerinnen und wieder lässt mich das Hobby des Legenden- und Märchenonkels nicht los. Die neue Folge entstand durch einen Kommentar eines Hörers, der mich bat ‚Die Legende von Tjark Evers‘ zu texten und aufzunehmen. Hab ich natürlich gerne gemacht, danke für den Hinweis an dieser Stelle. Es „tut ja echt gut“, eine solche Geschichte weiterzutragen und hoffe sie gefällt Dir und kann beim Einschlafen und Träumen etwas helfen ;-) Wie immer freue ich mich natürlich über jeden Kommentar, neue Idee oder Anregungen aller Art :)
Viele liebe Grüße aus Wiesmoor,
Jürgen Jester
Weiterführende Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Tjark_Evers
Sound Effect und Musik von Julius H. from Pixabay.
Hier das Script, für alle, die es vielleicht doch lieber lesen möchten :-)
Gute Unterhaltung, ich hoffe, es ist eine schöne Folge geworden.
Friesenzeit – Die Legende von Tjark Evers
Die kleine Insel Baltrum, auf der unsere Geschichte beginnt, liegt vor der Küste Ostfrieslands in der Mitte der Kette der Ostfriesischen Inseln. Die damals noch unbändigen Nordsee hielt die Schicksalsfäden vieler Küstenbewohner fest umklammert – und ganz besonders jener, die die Inseln ihr Zuhause nannten.
Zu dieser Zeit entdeckte man auf Baltrum neben dem Fischfang mit dem Einsammeln von Schill einen neuen Markt, der große Gewinne versprach und die Lebensverhältnisse der Insulaner verbesserte. Schill nennt man die leeren Schalen der Herzmuschel, die sich hier in Massen ablagerten und sich gut an Kalkbrennereien auf dem Festland verkaufen ließen, die daraus Kalkmörtel als Baumaterial herstellten.
Auf eben dieser Insel, die von Handel und Schifffahrt geprägt ist und die gemein hin unter dem Namen Juist bekannt ist, blühte das Leben auf. Hier lebte die Familie Evers, die schon immer stark mit der Insel verbunden war.
Der Vater Honke Evers war Schiffer und so war es nicht verwunderlich, dass seine beiden Söhne sich auch der Seefahrt zuwandten.
Der 21-jährige Tjark Evers, ein wagemutiger und intelligenter junger Mann, der in die Tradition seiner Familie eingetreten war und plante, das Erbe als Seemann fortzuführen, hatte sich große Ziele gesteckt und war gerade auf der Navigationsschule in Timmel, um sich auf seine Steuermannsprüfung vorzubereiten.
Es ist kurz vor Weihnachten, im Jahr 1866. In den ruhigeren Tagen vor den Festtagen plante Tjark voller Vorfreude auf das bevorstehende Weihnachtsfest nach Haue zu fahren, um seine Eltern auf Baltrum mit einem Besuch zu überraschen.
Doch das Schicksal wollte es anders, denn am frühen Morgen des 23. Dezembers 1866 lag dichter Nebel über der See.
Zusammen mit einem Mann aus Langeoog bestieg Tjark einen Tag vor Heiligabend ein Ruderboot in West-Accumersiel, welches die beiden Passagier auf ihre Inseln bringen sollte. Die Bootsleute ruderten zunächst an den Langeooger Strand, wo sie den Mann aus Langeoog absetzten und machten sich dann auf den Weg nach Baltrum. Doch der Nebel verschluckte jede Orientierung. Voller Überzeugung, den Baltrumer Strand erreicht zu haben, legten sie das Boot kurze Zeit später an. Glücklich, die Familie bald in die Arme schließen zu können, stieg Tjark aus. Die Seeleute verabschiedeten sich und das Ruderboot verschwand wieder im dichten Nebel.
Es dauerte wahrscheinlich eine kurze Zeit, ehe Tjark an diesem kalten Dezembermorgen realisierte, dass er sich nicht auf der heimischen Insel Baltrum, sondern auf einer Sandbank im „Accumer Ee“ befand, die mit einsetzender Flut vom Meer wieder vollständig verschlungen werden würde.
Sein Herz sank ihm in die Brust, als ihm bewusst wurde, dass es keine Rettung vor dem drohenden Ertrinken gab. Mit zitternder Hand und schweren Herzens nahm er in der Eiseskälte sein Notizbuch zur Hand und begann einen Abschiedsbrief zu schreiben.
Der Brief
„Liebe Mutter! Gott tröste Dich, denn Dein Sohn ist nicht mehr. Ich stehe hier und bitte Gott um Vergebung meiner Sünden. Seid alle gegrüßt. Ich habe das Wasser jetzt bis an die Knie, ich muss gleich ertrinken, denn Hülfe ist nicht mehr da. Gott sei mir Sünder gnädig. Es ist 9 Uhr, Ihr geht gleich zur Kirche, bittet nur für mich Armen, dass Gott mir gnädig sei.
Liebe Eltern, Gebrüder und Schwestern, ich stehe hier auf einer Plat und muss ertrinken, ich bekomme Euch nicht wieder zu sehen und ihr mich nicht. Gott erbarme sich über mich und tröste Euch. Ich stecke dieses Buch in eine Zigarren-Kiste. Gott gebe, dass Ihr die Zeilen von meiner Hand erhaltet. Ich grüße Euch zum letzten Mal. Gott vergebe mir meine Sünden und nehme mich zu sich in sein Himmelreich. Amen.
An Schiffer H. E. Evers Baltrum
T U H Evers
Ich bin T. Evers von Baltrum.
Der Finder wird gebeten, dieses Buch meinen Eltern zuzuschicken an Cpt. H. E. Evers Insel Baltrum“
Tjark wickelte den Abschiedsbrief sorgfältig in ein Taschentuch und legte dies in die Zigarren-Kiste, die er als Weihnachtsgeschenk mitgebracht hatte. Seine letzten Worte waren an den Finder gerichtet, mit der dringenden Bitte, das Buch seinen Eltern auf Baltrum zuzuschicken. Dann ließ er die Kiste ins Meer treiben, im Glauben, dass seine letzten Gedanken und Gebete den Weg zu seiner Familie finden würden.
Tragisch und einsam stand er auf der Sandbank und ließ sein letztes Gebet gen Himmel steigen, während ihm die Zeit davonlief.
Langsam und geheimnisvoll trieb die kleine Zigarren-Kiste mit dem rührenden Abschiedsbrief durch die Wellen, bis sie schließlich unbeschadet am 3. Januar am Strand der Insel Wangerooge angespült und gefunden wurde. Der Finder entdeckte den herzzerreißenden Abschiedsbrief von Tjark Evers und überbrachte diesen an die Familie Evers.
Die Geschichte von Tjark Evers‘ tragischem Tod und der Abschiedsbrief, der die Insel in der kleinen Kiste unbeschadet erreichte, war schier unglaublich.
Doch das Meer behielt seine Geheimnisse wie so oft für sich – der Leichnam von Tjark Evers wurde nie gefunden.
Die Zigarren-Kiste mit dem Brief, dem Bleistift und dem Taschentuch sind als Erinnerung an einen tapferen jungen Mann im Museum „Altes Zollhaus“ auf Baltrum ausgestellt und seine Geschichte im Baltrumer Kirchenbuch verzeichnet.
Das Schicksal von Tjark Evers lebt fort in den Herzen der Menschen auf Baltrum und über die Grenzen der Insel hinweg.
Die Sage von Tjark Evers‘ tragischem Tod durch Ertrinken war keine Einzigartigkeit in einer Zeit, in der das Meer gnadenlos über das Leben der Menschen entschied. Doch die außergewöhnlichen Umstände, der bewegende Abschiedsbrief und die mysteriöse Reise der Zigarren-Kiste machten diesen Fall zu einer Legende, die ich Euch heute erzählen wollte.
Bis heute erinnert man sich auf Baltrum an die tragische Geschichte des jungen Seemanns, der sein Leben dem Meer opferte.
Und wenn ihr einmal wieder Meeresrauschen hören wollt, der Fähranleger am Hafen in Neßmersiel ist nicht weit und bringt Euch schnell auf die kleine Insel.
Der Blick vom Ostende Strand auf Baltrum hinüber nach Langeoog zeigt, wie nah Tjark Evers seiner Heimatinsel tatsächlich war – die beiden Inseln trennen hier keine tausend Meter. Doch bei Nebel und aufsteigendem Wasser doch so unerreichbar fern…
Danke fürs Lesen oder Hören,
Jürgen Jester